Sexualisierte Gewalt

Sexualisierte Gewalt umfasst grundsätzlich alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Für eine Dokumentation relevant sind der sexuelle Missbrauch von Kindern und Pflegebedürftigen, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung.

Anamnese

In Fällen von sexualisierter Gewalt (hier: Sexualdelikt i.e.S.) sind die folgenden Faktoren zur Anamnese zu erfassen:

  • Art der Penetration (oral, vaginal, anal)?
  • Kam es zu einer Ejakulation?
  • Subjektive Symptome: Schmerzen oder Blutungen?
  • Bestehen Erinnerungslücken? Gibt es hierfür einen Erklärungsansatz?
  • Verhütet die Patientin effektiv?
  • Wurde bei dem Vorfall ein Kondom verwendet?
  • Wann war der Zeitpunkt der letzten Menstruation?
  • Besteht derzeit eine Schwangerschaft?
  • Hat die Patientin bzw. der Patient sich zwischen Tat und Untersuchung gereinigt? Wie?
  • Hat die Patientin bzw. der Patient zwischen Tat und Untersuchung Urin gelassen oder Stuhlgang gehabt?
  • Gab es einen extragenitalen Sperma- oder Speichelkontakt (Küssen, Lecken, etc.)?
  • Gab es innerhalb der letzten 7 Tage einen einvernehmlichen Sexualkontakt (die Frage dient zur Differenzierung einer möglichen DNA-Mischspur)?
  • Ist ein Hepatitis B- und Tetanus Impfschutz vorhanden?

Untersuchung

Es ist einerseits eine Ganzkörperinspektion auf extragenitale Verletzungen (v.a. Hautrötungen, Kratzer, Hämatome) durchzuführen. Andererseits ist, je nach Anamnese, eine genitale und/oder anale Untersuchung vorzunehmen (gynäkologischer Untersuchungsstuhl). Nach einer Penetration können sich im Genitalbereich Rötungen, Einrisse oder Unterblutungen finden. Eine Spekulumuntersuchung darf erst nach Spurensicherung am äußeren Genitale erfolgen und Gleit- oder Desinfektionsmittel dürfen nicht verwendet werden, um die Spurensicherung nicht zu gefährden (Instrumente mit warmem Wasser anfeuchten).

Bild: Entkleidungsverletzung

Im Falle einer analen Penetration sollte, neben einer Inspektion des Analbereichs auf äußerlich sichtbare Verletzungen, bei Einverständnis der Patientin eine Rektoskopie im Hinblick auf eventuelle Schleimhautverletzungen inkl. Spurensicherung erfolgen. Die anale Untersuchung kann in Seitenlage mit angezogenen Beinen erfolgen.

Das Fehlen von genitalen Verletzungen nach Sexualdelikten ist kein seltener Befund. Daher kommt der Ganzkörperuntersuchung zum Nachweis der häufigeren extragenitalen Verletzungen eine besondere Rolle zu.

Bild: Griffspuren am Oberschenkel

Hierbei ist insbesondere zu achten auf:

  • Griffspuren (Fleckförmige Hämatome an den Armen)
  • Fixierungsverletzungen (Fleckförmige Hämatome im Sinne von Griffspuren an den Innenseiten der Oberschenkel)
  • Entkleidungsverletzungen (Kratzer und Schürfungen im Bereich von z.B. BH-Trägern und Hosenbundbereich)
  • Widerlagerverletzungen (Hautrötungen oder Schürfungen am Rücken über knöchernen Widerlagern, v.a. Schulterblättern und Steißbein)
  • Ggf. Folgen sonstiger Gewalteinwirkungen (z.B. stumpfe Gewalt, Gewalt gegen den Hals, etc.).

Bild: Widerlagerverletzung Steißbein

Untersuchung eines Tatverdächtigen

Diese Untersuchung kann mit Einverständnis des Tatverdächtigen oder auf polizeiliche oder richterliche Anordnung hin erfolgen. Bei einem Tatverdächtigen ist insbesondere auf Verletzungen durch Gegenwehr des Opfers zu achten (z.B. Kratz- oder Bissspuren).

Eine Blutprobenentnahme und Untersuchung auf Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis B und C) sollte angestrebt werden. In einigen Bundesländern ist dies bei begründetem Verdacht auf das Vorliegen einer Infektionskrankheit auch auf polizeiliche bzw. richterliche Anordnung ohne Einverständnis des Tatverdächtigen möglich.

Bei männlichen Tatverdächtigen sind Penisabstriche zu fertigen (siehe Spurensicherung bei sexualisierter Gewalt).

Spurensicherung

In Fällen von sexualisierter Gewalt kommt der Sicherung von DNA-fähigem Material eine besondere Bedeutung zu. Bei der Sicherung der Spuren gelten die Grundsätze der Spurensicherung.

Regelhaft sollten vaginale, anale und orale Abstriche erfolgen. In Abhängigkeit von der Sachverhaltsschilderung können weitere Abstriche von Körperregionen mit Sperma- oder Speichelkontakt sowie intensivem körperlichen Kontakt sichergestellt werden.

Eine Sicherung biologischer Spuren empfiehlt sich bis etwa 72 Stunden nach der angegebenen Tat. In Einzelfällen können verwertbare Spuren jedoch auch nach mehreren Tagen sichergestellt werden. Die folgende Zeitempfehlungen dienen als Orientierung.

Abstrich Vagina 1 Woche
Abstrich Cervix 1 Woche
Abstrich äußeres Genitale 72 Stunden
Abstrich Penis 72 Stunden
Abstrich Haut 72 Stunden
Abstrich Anal 24 Stunden
Abstrich Mundschleimhaut 12 Stunden
Ungereinigte Textilien unbegrenzt (asservieren)

Spurensicherung nach vaginaler Vergewaltigung

  • 1 Abstrich Mons pubis (feuchter Wattetupfer)
  • Je 1 Abstrich große / kleine Labien (feuchter Wattetupfer)
  • 1 Abstrich Vagina (trockener Wattetupfer)
  • 1 Abstrich Cervix (trockener Wattetupfer)

Spurensicherung nach analer Vergewaltigung

  • Abstrich Anus (feuchte Wattetupfer)
  • 2 Abstriche Rektum (Rektoskopie; feuchte Wattetupfer)

Spurensicherung nach Oralverkehr

  • Abstriche Mundhöhle (unterhalb der Zunge, tiefe Wangentasche; trockener Wattetupfer)

Spurensicherung am Penis (ggf. beim Tatverdächtigen, aber auch bei männlichen Patienten):

  • 1 Abstrich Glans Penis in Höhe Sulcus coronarius, Ober- und Unterseite (feuchter Wattetupfer)
  • 1 Abstrich Glans Penis oberhalb Fossa navicularis/Urethramündung (feuchter Wattetupfer)
  • 1 Abstrich mittlerer Penisschaft (feuchter Wattetupfer)
  • 1 Abstrich Peniswurzel und Scrotum (feuchter Wattetupfer)

Eventuell vorhandene lose Schamhaare sind zu asservieren, ggf. durch Auskämmen.

Bei Beeinflussung durch Alkohol oder andere berauschende Mittel sollten mit Einverständnis der untersuchten Person eine Urinprobe (möglichst bis 48 Stunden, max. bis 72 Stunden nach der Tat) und eine Blutprobe (möglichst bis 24 Stunden, max. bis 48 Stunden nach der Tat, 2 Serumröhrchen) für eine eventuelle spätere Untersuchung entnommen werden.

Wird eine (Teil-) Amnesie für den Vorfall angeben, besteht die Möglichkeit der Verabreichung sogenannter K.O.-Tropfen. In diesen Fällen sollten mit Einverständnis der untersuchten Person eine Urinprobe (bis 48 Stunden nach der Tat) und eine Blutprobe (bis 24 Stunden nach der Tat, 2 Serumröhrchen) für eine eventuelle chemisch-toxikologische Untersuchung entnommen werden.

Hat das Opfer den Täter im Rahmen einer Gegenwehr gekratzt, sind die Fingernagelränder mittels einer sterilen Schere zu asservieren (möglichst alle Finger getrennt, wenigstens Hand rechts / links getrennt). Wird diese Maßnahme abgelehnt oder sind die Fingernägel sehr kurz kann alternativ mit einem angefeuchteten Tupfer ein Abrieb unter den Fingernägeln angefertigt werden.

Wird noch die zum Tatzeitpunkt getragene oder direkt danach angezogene Bekleidung getragen, sollte diese (wenigstens aber die Unterbekleidung) getrennt in Papiertüten asserviert werden, wenn eine solche Asservierung nicht bereits polizeilich erfolgt oder vorgesehen ist. Gleiches gilt für eventuell vorhandene Tampons oder Binden etc.

Medizinische Versorgung und Infektionsprophylaxe

Vor Einleitung eventueller medizinischer Maßnahmen ist in jedem Fall ein Schwangerschaftsschnelltest im Urin durchzuführen.

In Abhängigkeit von der Fallkonstellation (versuchtes/vollendetes Delikt, Benutzung eines Kondoms, Verhütungsmaßnahmen) ist eine Beratung hinsichtlich der Einnahme der „Pille danach“ vorzunehmen.

Sollten sich konkrete Hinweise auf das Vorliegen einer sexuell übertragbaren Erkrankung (STD) bei dem Beschuldigten oder bei dem Opfer ergeben, ist gezielt auf diese Erkrankung zu untersuchen und eine entsprechende Therapie einzuleiten.

Besonderes Augenmerk ist hierbei auf die Möglichkeit der Übertragung von HIV, Hepatitis B und Hepatitis C zu legen. In Abhängigkeit von Faktoren, die ein Übertragungsrisiko erhöhen (bekannte Erkrankung des Beschuldigten, Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, genitale Verletzungen, ungeschützter Verkehr, Analverkehr etc.) sowie des Impfstatus (Hepatitis B) muss eine Beratung hinsichtlich der Möglichkeit einer HIV-Postexpositionsprophylaxe (HIV-PEP) und einer Hepatitis B Immunisierung (aktiv/passiv) erfolgen und diese ggf. eingeleitet werden.
In jedem Fall sollte dem Opfer die Erhebung des sog. Nullstatus (Infektionsstatus zum Untersuchungszeitpunkt) angeboten werden.

Im Anschluss an die Untersuchung sollten die Betroffenen auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme psychosozialer Hilfsangebote hingewiesen werden und nach Möglichkeit mit Informationen regionaler Angebote versorgt werden.